Was bedeutet "systemisch"? Ein Einblick in Theorie, Haltung und Methoden
- lpeine
- vor 15 Stunden
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Die systemische Therapie und Beratung hat sich als ein wirkungsvoller Ansatz etabliert, um Menschen bei Herausforderungen in ihren Beziehungen, im Beruf oder im Umgang mit sich selbst zu unterstützen. Doch was bedeutet es eigentlich, „systemisch“ zu arbeiten? Welche theoretischen Grundlagen liegen diesem Ansatz zugrunde? In diesem Artikel gebe ich dir einen fundierten Einblick in die Systemtheorie, die wichtigsten Methoden, die Haltung systemischer Therapeut*innen sowie die Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes – sowohl in der professionellen Praxis als auch im Alltag.
Die theoretischen Wurzeln: Systemtheorie als Basis
Der systemische Ansatz basiert auf der allgemeinen Systemtheorie, die in den 1940er Jahren von Ludwig von Bertalanffy entwickelt wurde. Sie beschreibt, wie verschiedene Elemente eines Systems miteinander in Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Diese Theorie wurde später von Kybernetikern wie Norbert Wiener und Heinz von Foerster weiterentwickelt und in die Sozialwissenschaften übertragen.
Einflussreich für die systemische Therapie waren insbesondere folgende Konzepte:
1. Zirkularität und Wechselwirkungen
In einem System existieren keine linearen Ursache-Wirkung-Ketten, sondern wechselseitige Einflüsse. Ein Verhalten ist nie nur die Folge eines bestimmten Ereignisses, sondern immer Teil eines komplexen Wechselspiels.
Beispiel: Ein Kind zeigt auffälliges Verhalten in der Schule. Eine lineare Betrachtung könnte sagen: „Das Kind hat ADHS.“ Eine systemische Perspektive fragt jedoch: „Wie reagieren Eltern, Lehrerinnen und Mitschülerinnen auf dieses Verhalten? Welche Dynamiken könnten dazu beitragen, dass es sich verstärkt oder verändert?“
2. Autopoiesis – Selbstorganisation von Systemen
Der Biologe Humberto Maturana entwickelte das Konzept der Autopoiesis: Jedes lebende System erhält und organisiert sich selbst. Es kann nicht direkt von außen gesteuert werden, sondern reagiert nur auf Reize, die es als relevant einstuft.
In der systemischen Therapie bedeutet das: Klientinnen verändern sich nicht durch Ratschläge oder Anweisungen, sondern durch eigene Einsichten und Anpassungen ihres inneren Systems. Die Aufgabe der Therapeutin ist es, durch gezielte Fragen und Interventionen Denkprozesse anzustoßen, die neue Muster ermöglichen.
3. Konstruktivismus – Wirklichkeit ist subjektiv
Der (radikale) Konstruktivismus, geprägt von Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster, besagt, dass es keine objektive Realität gibt - jeder Mensch konstruiert seine eigene Wirklichkeit. Zwei Menschen können dasselbe Ereignis völlig unterschiedlich erleben, abhängig von ihren Erfahrungen, Prägungen und Interpretationsmustern.
Diese Erkenntnis ist zentral für die systemische Arbeit: Anstatt eine „wahre“ Erklärung für ein Problem zu suchen, werden alternative Sichtweisen eröffnet. Das ermöglicht Veränderung, da die Art und Weise, wie jemand ein Problem betrachtet, oft entscheidender ist als das Problem selbst.
Methoden und Werkzeuge der systemischen Therapie
Die systemische Therapie nutzt eine Vielzahl von Techniken, um neue Perspektiven zu ermöglichen und damit Veränderung zu fördern:
Zirkuläre Fragen – Perspektivenwechsel ermöglichen
Statt direkte „Warum“-Fragen zu stellen, die oft zu Rechtfertigungen führen, werden zirkuläre Fragen genutzt. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf Wechselwirkungen und unterschiedliche Sichtweisen.
Beispiel:
„Wie würde Ihre beste Freundin beschreiben, was Ihr Hauptproblem ist?“
„Wenn Ihr Partner Ihr Verhalten in dieser Situation kommentieren würde, was glauben Sie, würde er sagen?“
Diese Fragen helfen, aus starren Denkmustern auszubrechen und dabei AHA-Erlebnisse zu gewinnen und neue Handlungsräume zu betreten.
Reframing – Probleme neu interpretieren
Beim Reframing (engl. „umdeuten“) wird einer Situation eine neue Bedeutung gegeben. Ein Verhalten oder eine Erfahrung, die als problematisch wahrgenommen wird, kann aus einer anderen Perspektive als Ressource oder Schutzstrategie verstanden werden.
Beispiel: Jemand sieht sich als „zu sensibel“ und leidet darunter. Ein Reframing könnte lauten: „Vielleicht bedeutet das, dass Sie besonders feine Signale in Ihrer Umgebung wahrnehmen und empathisch auf andere eingehen können.“
Genogrammarbeit – Familienstorys entschlüsseln
Das Genogramm ist eine erweiterte Form des Stammbaums, in dem nicht nur Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch emotionale Bindungen und Muster über Generationen hinweg sichtbar gemacht werden. Es hilft, unbewusste Prägungen und übernommene Überzeugungen zu erkennen.
Beispiel: Wer in einer Familie aufgewachsen ist, in der „Harte Arbeit zahlt sich aus“ ein unumstößlicher Glaubenssatz war, könnte Schwierigkeiten haben, sich Pausen zu erlauben. Das Genogramm hilft, solche Muster bewusst zu machen.
Skalierungsfragen – Veränderung messbar machen
Anstatt nach Absolutheiten zu fragen, hilft es, Entwicklungen auf einer Skala von 1 bis 10 einzuordnen.
Beispiel:
„Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie stark empfinden Sie aktuell Ihren Stress?“
„Was müsste passieren, damit Sie eine Stufe höher kommen?“
Diese Fragen machen Fortschritt sichtbar und geben Impulse für kleine nächste Schritte.
Die Haltung von systemischen Therapeut*innen
Neben den Methoden ist die Haltung der Therapeut*in vor allem eine wichtige Basis in der systemischen Arbeit. Die Grundlagen der Haltung sind:
1. Allparteilichkeit
Systemische Therapeut*innen ergreifen keine Partei, sondern betrachten alle Perspektiven gleichwertig. Das bedeutet, auch als „problematische“ benannte Verhaltensweisen nicht zu bewerten, sondern deren Funktion im System zu verstehen.
2. Ressourcen- und Lösungsorientierung
Anstatt Defizite zu betonen, wird nach vorhandenen Stärken gesucht. Auch kleine Erfolge und Ausnahmen vom Problem werden beleuchtet, um neue Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.
3. Selbstverantwortung der Klient*innen
Menschen sind Expertinnen für ihr eigenes Leben. Therapeutinnen geben keine Lösungen vor, sondern unterstützen dabei, eigene, individuelle Antworten zu finden.
4.Nicht-Wissen
Die Haltung des Nicht-Wissens bedeutet, als Therapeut*in ohne vorgefertigte Antworten oder feste Annahmen in den Prozess zu gehen. Stattdessen wird neugierig und offen erforscht, welche Bedeutungen, Muster und Lösungen die Klientinnen selbst mitbringen oder entwickeln. Diese Haltung ermöglicht es, gemeinsam neue Perspektiven zu entdecken, ohne dass die Therapeut*in eine „richtige“ Lösung vorgibt.
Grenzen der systemischen Therapie in der Privatpraxis
Die systemische Therapie ist kein Allheilmittel und hat klare Grenzen:
Keine Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen
Systemische Beratung kann keine klinische Psychotherapie ersetzen. Bei schweren Depressionen, Traumata oder Psychosen sind spezialisierte psychotherapeutische Verfahren notwendig.
Nicht immer der passende Ansatz
Manche Klient*innen wünschen sich konkrete Lösungen und direkte Ratschläge. Die systemische Haltung kann hier frustrierend wirken, wenn jemand nicht bereit ist, selbst zu reflektieren und Verantwortung zu übernehmen.
Fazit: Warum systemisches Denken eine Bereicherung ist
Die systemische Perspektive eröffnet neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten, indem sie Wechselwirkungen (& deren Auswirkungen) sichtbar macht, Ressourcen stärkt und Veränderung durch neue Sichtweisen ermöglicht.
Wer systemisch denkt, kann nicht nur in der Therapie, sondern auch im Alltag Konflikte und Herausforderungen anders betrachten – und sich selbst und andere mit mehr Verständnis begegnen.
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